Redebeitrag zur Flüchtlingssituation in Griechenland beim SoliCamp HD

Vom 17.1. bis zum 23.1.2021 hat sich auf dem Marktplatz der SoliCamp HD aufgehalten. Der Protestcamp gegen EU-Flüchtlingspolitik wollte auf die prekäre Lage in den Geflüchtetenlagern an den EU-Außengrenzen aufmerksam machen. Die täglichen Aktionen kulminierten am 23.1. zu einer Kundgebung, wo Fytili auch die Gelegenheit bekommen hat, mit folgendem Redebeitrag zur gesellschaftspolitischen Lage der Flüchtlinge in Griechenland teilzunehmen.

 Liebe Genoss*innen,

wir sind Fytili, auf Deutsch “der Docht”, eine neugegründete Gruppe hier in Heidelberg. Da uns das Bedürfnis für eine größere internationale Kooperation notwendig erschien, werden wir uns auf Aktionen und Informationsaustausch insbesondere zwischen den Bewegungen in Griechenland und Deutschland konzentrieren. Unsere Vorredner*innen haben die Situation auf den Lagern und an den “Eingangstoren” der EU sehr gut präsentiert. Deswegen wollen wir heute in diesem kurzen Beitrag auf zweierlei Sachen fokussieren: Einerseits den gesellschaftlichen Diskurs um die Flüchtlinge in Griechenland und andererseits die (teilweise daraus resultierende) Repression gegen autonome Strukturen von oder für Flüchtlinge.

Bestehend hauptsächlich aus Mitgliedern, die aus Griechenland kommen oder in Griechenland sozialisiert wurden, liegen uns alle diese Fragen am Herzen. Wir sind nämlich in einer Zeit und Gesellschaft aufgewachsen, in der Flüchtlinge und Migranten immer präsent waren und immer wieder von manchen als ein “Problem” gesehen wurden.  Über die vergangenen 30 Jahren ist die negative Stimmung gegen Migranten und Flüchtlinge in der griechischen Gesellschaft durch Hass- und Aggressionswellen immer wiederkehrend. Wir selbst haben diese wahrgenommen, während wir in Griechenland aufwuchsen. Jedoch konnte man in den letzten Jahren -wie überall in Europa- eine Polarisierung um solche Themen und einen Rechtsruck auch in Griechenland feststellen. 

Die jetzt bestrafte Neonazi-Partei “Goldene Morgenröte” hat mit ihrer Rhetorik, aber auch mit ihren Praktiken, rassistisches Gedankengut “trendy” gemacht. Die Kirche, die sowieso eine sehr heterogene und fragwürdige Haltung pflegt, äußerte sich mehrmals spaltend durch prominente Geistliche. So sagte Ambrosios, ein bekannter Metropolit 2016: “Lasst die Scharen der Islamistenflüchtlinge nicht unsere Region verschmutzen”. Sätze, die mit “Ich bin kein Rassist, aber…” anfangen, wurden immer häufiger und somit gesellschaftstauglicher und der Begriff “illegale Migranten” oder einfach “illegale” (auf griechisch λαθρό) bezeichnete auf einmal alle Flüchtlinge, Migranten und Asylbewerber. Natürlich sind diese dann kollektiv verdächtig für jede Straftat, egal wer der wirkliche Täter war. So auch letztens, als ein U-Bahn-Kontrolleur im Athener Zentrum zusammengeschlagen wurde. Das Narrativ war schnell fertig und kursierte in zahlreichen systemischen Medien: junge Algerier. Und die Auflösung? Inzwischen wurde ermittelt, dass es sich um minderjährige Griechen handele, die noch dazu ein Polizeibeamter in seiner Wohnung versteckte! Diese letzte Geschichte ist leider repräsentativ und nicht überraschend: so wuchern  in den Social-Media-Platformen Hetzekommentare, fast “digitale Volksgerichte” würde man sagen, Elternvereine von griechischen Schulen haben versucht, den Zugang zum Unterricht für Flüchtlingskinder zu blockieren, teilweise auch mit Lynchaktionen am ersten Schultag, das kriminelle, fast pogromartige Handeln der Goldenen Morgenröte in gewissen Nachbarschaften Athens mit hohem Ausländeranteil wurde von den meisten Anwohnern billigend in Kauf genommen oder sogar unterstützt. Gleichzeitig sind für die gleichen Griechen Flüchtlinge und Migranten die beste Arbeitskraft, da sie sowohl ohne Klage ausgebeutet, als auch währenddessen erniedrigt und rassistisch diskriminiert werden können, ganz nach den sadistischen Zügen des jeweiligen Bosses. 

Der Machtwechsel in der griechischen Regierung vor anderthalb Jahren hat alles schlimmer gemacht: die Präsenz einer rechtskonservativen Partei an der Spitze hat gewisse Bürger*innen dazu aktiviert, ihre Heimattreue ausleben und zeigen zu wollen. So leisteten manche “Aktivbürger” letzten Frühling zusammen mit Verbündeten aus ganz Europa (darunter ja auch alte Bekannte aus Heidelberg) der Polizei und den Grenzschutzbehörden am Evros und auf den Inseln Hilfe, indem sie Essen für diese vorbereiteten oder sich sogar in Schlägergruppen gegen Flüchtlinge zusammentaten. Womit all die nicht gerechnet hatten, war die Militanz der griechischen Antifa. Ein letzter solcher rassistische Vorfall, der der Erwähnung wert ist, ist die Messerattacke an Weihnachten auf eine sogar kirchliche Struktur für unbetreute minderjährige Geflüchtete in der Nähe von Thessaloniki.

Was sind aber die Motive für solche Aktionen? Wieso hatte eine Neonazi-Partei in Griechenland genug großen Zuspruch, dass sie ins Parlament gezogen ist und ihre Verbrechen erstmal lange unbestraft blieben? Wieso sehen sich “Aktivbürger” gezwungen, sich gegen einen “Feind von außen” zu wehren? Ein ständiges Argument ist die “negative Veränderung”, etwa die “Verfälschung” deren Kultur. Wenn all das, was bisher beschrieben wurde, zu deren Kultur gehört, dann können Flüchtlinge sie jederzeit verändern, wenn ihr uns fragt.

Weiterhin hat die Regierung der Partei “Neue Demokratie”, die am 17. Juli 2019 an die Macht gekommen ist, diese rassistischen Neigungen der griechischen Gesellschaft politisch genutzt und verbreitet. Sie hat sowohl diese unmenschliche Gleichgültigkeit über die Flüchtlinge gefördert, als auch ständig Anti-Flüchtlings-Propaganda gemacht. Die systemischen Medien haben ihre Rolle sehr gut gespielt und das Volk fast alltäglich daran erinnert, dass die Flüchtlinge aus vielen Gründen „für das Land und die Demokratie sehr gefährlich sind.“

Das ehemalige Ministerium für Migrationspolitik und seine Kompetenzen wurden am 9. Juli 2019 dem für die Polizei zuständigen Ministerium für zivile Ordnung und Bürgerschutz untergeordnet, als wären die Flüchtlinge eine Bedrohung für die Bürger, oder gemeine Kriminelle. Am 15. Januar 2020 hat die Regierung das Ministerium für Migration und Asyl neu geschaffen, das aus Diensten dieses Polizeiministeriums bestand und hauptsächlich auf den Bau von geschlossenen Strukturen-Gefängnissen zielt. So verwandeln sich die Inseln zum Seelenlager, wo Menschen ins Gefängnis gebracht werden, nur weil sie ihr Leben verbessern wollen.

Am 20. November 2020 hat der Minister für Bürgerschutz Michalis Chrisochoidis ein Ultimatum gestellt, dass alle Besetzungen innerhalb von 15 Tagen geräumt werden müssen. Wir möchten erwähnen, dass viele dieser Besetzungen als Wohnungen, Schulen und Gaststätte für die Flüchtlinge genutzt wurden. Die folgenden Tage waren ein Repressionsfest. Das war nicht das erste Mal, das eine griechische Regierung solche Maßnahmen getroffen hat. Am 18. April 2019 wurde eine Besetzung in Exarcheia, Athen, geräumt, in der insgesamt 60 Flüchtlinge (darunter 30 waren Familien) gelebt haben. Da es kein anderes Obdach gab, haben die Flüchtlinge am Syntagma Platz im Zentrum von Athen gezeltet und 40 von den sind nach 2 Tagen zu einer Struktur in Elaionas transportiert worden. 

In den letzten zwei Jahren haben sich auch die Beziehungen zwischen der griechischen und türkischen Regierung verschärft, wobei jede Seite der anderen die Schuld für ihre Unfähigkeit bei der Lösung der Flüchtlingskrise gibt. Sie verweigern, Maßnahmen für die Evakuierung der Lager und die Integration der Flüchtlinge in der griechischen und türkischen Gesellschaft zu treffen. Sie interessieren sich für die erniedrigende Lebensbedingungen der Lager nicht-die griechische Regierung will sie auch verstecken, da sie neulich die Fotoaufnahme auf den Lagern verboten hat. So unterstützen sie eigentlich die Menschenhändler und diejenigen, die von dieser Situation in beiden Ländern profitieren, indem sie die Flüchtlinge ausbeuten und missbrauchen. Der Brand von Moria und alles, was darauffolgte, , natürlich mit dem Beitrag von vielen „Aktiv-Bürgern“, ist ein Beispiel dafür.

Während der Corona-Krise überließ die griechische Regierung die Flüchtlinge völlig ihrem Schicksal. Die monatliche finanzielle Hilfe zu den Flüchtlingen wurde sogar geschnitten, „weil es Flüchtlinge dazu fördere, in Griechenland Asyl zu suchen und weil sie die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus nicht einhalten können“, so der Minister für Migration und Asyl, Notis Mytarakis. Auch erwähnenswert ist die Tatsache, dass die Stromversorgung von BIO.ME in Thessaloniki mithilfe der Bereitschaftspolizei abgestellt wurde. BIO.ME ist die einzige kollektiv selbstverwaltete Fabrik in Griechenland und hat die Flüchtlinge mit Seifen und Reinigungsmitteln versorgt. Darüber hinaus ist es nicht verwunderlich, dass die systemischen Medien weiterhin ihre Rolle gespielt haben, die Flüchtlinge zu beschuldigen und Rassismus in der griechischen Gesellschaft zu verbreiten. Und wie hat die Regierung all dies ermöglicht? Durch den Einsatz von Repressionskräften, deren Zahl mit jeder neuen Verordnung wächst.

Stimmenfang. Gleichgültigkeit. Repression und Rassismus.

Um gerecht zu sein aber, müssen wir betonen, dass die griechische Gesellschaft auch ein anderes Gesicht gezeigt hat, und vor allem nach dem Μord von Sahzat Luqman in 2013.  Die Bewegung in Griechenland, die sich hauptsächlich aus Studenten, Arbeitern, Bauern und Schülern zusammensetzt, hat von Anfang an ihre Solidarität geäußert und praktisch gezeigt. Durch Aktionen wie Demos, Proteste, Kundgebungen, die Wiederbesetzung von geräumten Gebäuden und die Leistung materieller Hilfe wurde und wird versucht, die Lebensbedingungen der Flüchtlinge zu verbessern und für ihre Rechte und gegen Repression zu kämpfen. Hinzufügend haben vor der Pandemie viele Veranstaltungen stattgefunden, deren Ziel der kulturelle Austausch, die Sensibilisierung, die Förderung der Akzeptanz und Integration von Geflüchteten in der griechischen Gesellschaft war.

Aus diesen Gründen sind wir der Meinung, dass es sich nicht um ein rein humanistisches, sondern um ein politisches Thema mit humanistischen Parametern handelt. Krieg und Armut haben diese Menschen gezwungen, ihre Länder zu verlassen, auf der Suche nach einer Zukunft, in der sie nicht getötet werden. Diese griechischen «Patrioten», in einem Land, dessen Bevölkerung zur Hälfte aus Flüchtlingen abstammt, beweisen nur, dass sie keinerlei Kenntnis von der griechischen Geschichte haben, wenn sie diese Menschen nicht willkommen heißen, helfen und akzeptieren. Außerdem hat die Geschichte schon bewiesen, dass dort, wo ein großer Flüchtlingsstrom zu verzeichnen ist, meistens ein wirtschaftliches, soziales, kulturelles und technologisches Wachstum folgt.

Was die Regierung und Repression betrifft, so ist die Maske der Demokratie längst abgerissen und ihr echtes, grausames und schamloses Gesicht wird leicht erkannt. Für wen und auf welche Art und Weise die „festgesetzten“ und „weltweit respektierten“ Menschenrechte dieser bürgerlichen Demokratie gelten, entscheiden nur die Unterdrücker (diejenigen, die an der Macht sind). Und dagegen müssen -und werden- wir immer kämpfen.

Zum Schluss möchten wir unsere Solidarität mit den Flüchtlingen, mit dem Genossen Errol, der widerrechtlich deportiert wurde, mit den 9 politischen Gefangenen, die sich derzeit am 15. Tag des Hungerstreiks befinden und mit den Studenten in Griechenland, die sich aktuell gegen die Erschaffung einer Universitätspolizei wehren, ausdrücken.

ΜΕ ΤΙΣ ΜΕΤΑΝΑΣΤΡΙΕΣ ΕΙΜΑΣΤΕ ΜΑΖΙ, ΕΠΑΝΑΠΡΟΩΘΗΣΗ ΣΕ ΜΠΑΤΣΟΥΣ ΚΑΙ ΝΑΖΙ

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