Kafkaeske Justizfarce – Prozess gegen zwei Anarchisten von „Rouvikonas“ in Griechenland

Die Publikation findet ihr in der Graswurzelrevolution, Ausgabe 464, Dezember 2021

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Im März 2020 wurden zwei Mitglieder der anarchistischen Gruppe Rouvikonas, Nikos Mataragkas und Giorgos Kalaitzidis, verhaftet und des Mordes an einem Drogendealer im Athener Stadtteil Exarchia im Jahr 2016 beschuldigt. Seit dem 13. Oktober 2021 läuft der Prozess, in dem die beiden Aktivisten mit lebenslanger Haft bedroht werden – doch sämtliche Beweise und Zeug*innen-Aussagen stellen sich als konstruiert heraus. Über den Repressionsfall berichtet die anarchistische Gruppe fytíli (Docht). (GWR-Red.)

Die schikanöse Art und Weise, auf die jede bürgerliche Demokratie zulasten kämpfender Genoss*innen handelt, hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich geändert. Die Geschichte ist voll von Beispielen, in denen sich der Staat unbegründeter Konstrukte bedient, die er versucht, dem Kleinbürger*innentum ins Bewusstsein zu drücken, um seine mikropolitischen Ziele zu erreichen und alle progressiven Massenbewegungen zu stoppen. In solchen Fällen agiert die „unabhängige“ Justiz stets als Wohltäterin der jeweiligen Regierung.

Im vorrevolutionären Spanien beispielsweise, insbesondere in Andalusien im Jahr 1882, verhaftete die damalige Regierung Hunderte von Anarchist*innen unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zur Gruppe „Mano Negra“. Der Name dieser Gruppe war durch die staatliche Propaganda nach der Ermordung eines Polizeispitzels während eines Streiks einige Jahre zuvor legendär geworden. Es ist inzwischen bewiesen, dass es eine Gruppe mit diesem Namen in Spanien nie gegeben hat und dass sie nichts anderes als eine Erfindung des Staates war, um die spanische anarchistische Bewegung zu untergraben. Die meisten der verhafteten Aktivist*innen wurden freigelassen, aber der Arbeiter*innen-Verband verlor durch diese Verfolgung viele seiner Mitglieder.

In Griechenland im Jahr 2021 und insbesondere in Athen hat die Regierung von Kyriakos Mitsotakis ihre eigene „Mano Negra“ erfunden. Da sie nicht in der Lage ist, eine angebliche anarchistische Terrorgruppe selbst zu erschaffen, hat sie eine bereits bestehende und sehr einflussreiche anarchistische Gruppe ins Visier genommen, nämlich „Rouvikonas“. Diese Gruppe wird seit fast einem Jahrzehnt konsequent verfolgt, mit ständiger Terrorisierung und Verbreitung von Falschnachrichten und unzähligen Prozessen gegen ihre Mitglieder.

Der neueste und schamloseste Angriff gegen Rouvikonas-Mitglieder betrifft die Ermordung des Drogenhändlers Habibi im Jahr 2016 im Athener Stadtteil Exarchia, weswegen die den Behörden bekannten Aktivisten Nikos Mataragkas und Giorgos Kalaitzidis unter der schwerwiegenden Anklage des Mords bzw. der Anstiftung zum Mord vor Gericht gebracht werden. Dazu muss gesagt werden, dass in Exarchia aktive Gruppen wie Rouvikonas im Jahr 2016 hart gegen den Drogenhandel im Viertel gekämpft und die Polizei für ihre Zusammenarbeit und Toleranz in dieser Angelegenheit bloßgestellt haben. Die Ermordung Habibis und das Vorgehen der Polizei nach der Veröffentlichung des Vorfalls erschwerten die Lage, da sich herausstellte, dass die Polizei Drogenhändler*innen kannte, duldete und wahrscheinlich mit ihnen zusammenarbeitete, sodass das Thema von den Medien totgeschwiegen wurde. Nach fünf langen Jahren und dem Fehlen jeglicher Beweise, wer Habibi getötet hat, führt die Regierung Mitsotakis einen Prozess unter dem lächerlichen Vorwand „neuer Beweise“ und beschuldigt ganz willkürlich zwei der ältesten Mitglieder der Gruppe Rouvikonas, die von Staat und Medien seit Jahren zum Schreckensbild und Erzfeind aufgebaut wird.

Es ist leicht zu erkennen, dass die Gruppe Rouvikonas mit dem, was ihr von den Medien vorgeworfen wird, ebenso viel zu tun hat wie Nikos Mataragkas und Giorgos Kalaitzidis mit dem Mord an Habibi, was schon am ersten Prozessestag bewiesen wurde. Die „Hauptbelastungszeugin“ hat nämlich bei der Anhörung ihre schriftliche Aussage gänzlich dementiert und gab an, sie habe damals während ihrer Befragung unter dem Einfluss von Drogen gestanden. Sie sei wegen Drogenhandels verhaftet worden, und ihr wurde von den Polizist*innen angeboten, im Fall Habibi als Zeugin gegen „Hilfe“ (sic!) bei ihrem Prozess auszusagen. Und die Farce hörte damit nicht auf. Der Verteidigung wurden immer wieder Fragen verwehrt, und die Zeug*innen der Verteidigung sowie die Angeklagten wurden ständig mit Fragen bombardiert mit dem Ziel, ihre Aussagen zu verdrehen. Am skurrilsten: Von den ursprünglich 35 Zeug*innen der Anklage sind 15 nicht förmlich vorgeladen worden und von den restlichen 20 nicht alle aufgetaucht. Bei den meisten handelt es sich um wegen Drogendelikten Festgenommene, die in den Händen der Polizei zur Aussage zum Fall Habibi „motiviert“ wurden.

Bisher fanden zwei Prozesstage am 13. und am 29. Oktober statt. Der nächste ist für den 25. November anberaumt. Der bisherige Verlauf lässt aber kaum Unklarheiten zu den Zielen dieses sowie anderer Prozesse gegen Aktivist*innen. Es handelt sich um eine vonRache getriebene, aber nicht ungewöhnliche Taktik des Staats im Kampf gegen soziale Bewegungen. Denn eins ist klar: In diesen Prozessen geht es weder um den eigentlichen Tathergang noch um Justiz und Gerechtigkeit. Vielmehr erhofft sich der Staat auf strategischer Ebene die Desorientierung der Bewegung selbst sowie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die moralische Diffamierung der sozialen Kämpfer*innen, indem sie als blutdurstige Gemeinkriminelle dargestellt werden. In jenem speziellen Fall soll zusätzlich das Image der Polizei aufpoliert werden, indem sie im kollektiven Bewusstsein von der Exekution Habibis und darüber hinaus von der Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen losgelöst wird.

Doch hier haben wir es nicht nur mit einem Kampf im Gerichtssaal zu tun.

Die Wachsamkeit der sozialen Bewegung in Griechenland hat sich wieder einmal als hoch erwiesen. Rasch wurde die offene „Solidaritätskommission für Giorgos Kalaitzidis und Nikos Mataragkas“ gegründet, die seitdem die vielfältigen Solidaritätsaktionen koordiniert und mitgestaltet. So fanden z. B. schon vor dem ersten Prozesstag ein Motorrad-Korso durch das Zentrum Athens und ein Solidaritätskonzert mit zehn Bands bzw. Interpret*innen, später Kundgebungen vor dem Gerichtsgebäude an den Prozesstagen und eine Informationsveranstaltung im besetzten Zentrum K*VOX statt. Dezentrale Aktionen in anderen griechischen Städten sowie im Ausland haben auch nicht gefehlt.

Abschließend ist es offensichtlich, dass es hier nicht nur um Rouvikonas geht, sondern dass es ein direkter und hoffnungsloser Versuch der Regierung ist, die Bewegung zu zerschlagen. Die Fortsetzung des Kampfes und die Solidarität mit allen Opfern der Repression sind erforderlich.

Niemand wird im Kampf gegen den Terrorstaat allein gelassen.

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