Redebeiträge der Kundgebung “Zukunft barrierefrei gestalten”

Redebeitrag von queerhandicap e.V. zur Präsentation des Vereins

Redebeitrag von queerhandicap e.V. zur Präsentation des Vereins.

Hallo,

ich sitze aufgrund einer Muskelerkrankung im Rollstuhl und ich bin schwul. Ich freue mich, hier sowohl als Einzelperson, als auch als Vorstandsmitglied vom bundesweiten Verein queerhandicap e.V. sprechen zu dürfen.

Häufig wird Menschen im Rollstuhl die Sexualität gänzlich abgesprochen. Erst in der queeren Szene begannen die Leute nachzudenken. Aber leider musste ich auch in der queeren Szene Ausgrenzung erleben. Angebote für schwule Jugendliche waren nicht auf Menschen mit Behinderung eingerichtet. Viele Szeneorte in Heidelberg und Mannheim sind nicht barrierefrei zugänglich. Ich habe auch schon erlebt, dass hinter meinem Rücken getuschelt wurde, was ich in der queeren Szene überhaupt möchte.

Erst beim Verein queerhandicap e.V. lernte ich Menschen kennen, denen es so wie mir geht. queerhandicap e.V. will dazu beitragen, dass Menschen mit sichtbarer und unsichtbarer Behinderung, Beeinträchtigung, chronischer Erkrankung in allen Bereichen ihres Lebens ohne Benachteiligung offen zu ihrer sexuellen Orientierung und und geschlechtlichen Identität stehen können. Der Verein verleiht ihnen eine eigene Stimme.

Nur, wer selbst eine sichtbarere oder nicht sichtbarere Behinderung, Beeinträchtigung, chronische Erkrankung hat, hat Stimmrecht.

queerhandicap macht sichtbar, hörbar, fühlbar und Mut!

Der Verein bietet einmal im Monat ein Digital-Café und mindestens einmal im Jahr ein Präsenztreffen an. Demnächst wird es auch in Kooperation mit dem Queeren Zentrum Mannheim ein Treffen im Rhein-Neckar-Raum von und für Menschen mit Behinderung, Beeinträchtigung, chronische Erkrankung geben. queerhandicap e.V. sucht die Zusammenarbeit mit allen Gruppen, Vereinen, Initiativen, Projekten und Einzelpersonen, die seine Anliegen teilen. Es gibt gute Kontakte zu einer Reihe von bundesweiten Vereinen und Initiativen. Einigen hat sich der Verein als Mitglied angeschlossen.

Ich möchte alle Menschen, insbesondere alle queeren Menschen mit sichtbarer und unsichtbarer Behinderung, Beeinträchtigung, chronischer Erkrankung dazu aufrufen, uns in der Sache zu unterstützen. Lasst uns unsere Kräfte bündeln. Lasst uns gemeinsam unsere Stimme erheben. Lasst uns gemeinsam kämpfen für eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft kämpfen. Und für ein barrierefreies Queeres Zentrum Heidelberg.

Vielen Dank

Zurück nach oben

Redebeitrag zu Erfahrungen eines queeren Behinderten

Ich spreche hier heute als Einzelperson aus einer queeren und behinderten, weißen und akademischen Perspektive. Queerness ist seit vielen Jahren ein wichtiger Teil meines Lebens, Behinderung war für mich lange selbst unsichtbar und offiziell schwerbehindert wurde ich erst im letzten Jahr. Die Orte, an denen ich auf Community traf unterschieden sich: Queers traf ich auf Partys, dem CSD, auf Dates und in sozialen Medien. Meine peer-Begegnungen mit behinderten Personen spielten sich vor allem in therapeutischen und pädagogischen Settings, in Kliniken, Krankenhäusern und Wartezimmern ab. Umso besser, dass ich heute hier sein kann, sprechen darf und neue Menschen kennen lernen.

“Out of the closet, into the streets“, “raus aus dem Schrank, ab auf die Straßen”, ist ein Motto, das definitiv für beide Bewegungen gelten kann.

Beide Communitys teilen viele Erfahrungen, angefangen damit, dass ihnen Gleichwertigkeit abgesprochen, sie beleidigt, angefeindet und ausgegrenzt wurden. Wir teilen manche Schwierigkeiten, wenn auch aus teilweise verschiedenen Gründen: manche von uns haben Probleme mit öffentlichen Toiletten oder Umkleiden, andere haben erschwerte Bedingungen bei der Wohnungs- und Jobsuche, wir sind in unseren Herkunftsfamilien oft die einzigen “Nicht-Normalen” (aus Sicht der Dominanzgesellschaft). Wir suchen vergebens nach guten Repräsentationen in Filmen und Büchern, leben nach anderen Zeitplänen. Wir kennen das Gefühl unsichtbar oder angeschaut, manchmal auch angespuckt und vermehrt Opfer von Gewalt zu sein.

Beide Bewegungen nahmen Wörter mit denen sie beleidigt wurden zur Selbstbezeichnung, als Ausdruck ihrer Identität und ihrer Pride/ ihres Stolzes. Queer, auch übersetzbar als andersartig oder pervers, ist für meine Generation als Schimpfwort gar nicht mehr fühlbar. Crip, zu Deutsch Krüppel, ist ein Wort das sich besonders im deutschsprachigen Raum erst zögerlich, nur von manchen als Wort für ihr eigene Identität etabliert; gleichzeitig ist es aber auch nur ein Comeback in neuem Gewand; die Krüppelbewegung ist nämlich schon ein halbes Jahrhundert alt. Beides, queer und crip, gibt es auch als Verb. Etwas zu queeren oder zu crippen, kann bedeuten es auf den Kopf zu stellen, zu fragen, welche Vorstellungen von Normalität in etwas stecken, welche Körper und Fähigkeiten vorausgesetzt werden und wie Kapitalismus und Patriarchat unsere Vorstellungen eines fähigen, reproduktiven Körpers prägen. Aus diesen Perspektiven können wir z.B. fragen:

Warum sollte es normal sein, 40 Stunden plus in der Woche zu arbeiten?

Ist die Kleinfamilie tatsächlich die Keimzelle der Gesellschaft?

Wollen wir uns in Zeiten von globalen Krisen weiterhin als unabhängige, souveräne, allein fähige Individuen verstehen?

Soll sich der Wert eines Menschen wirklich an seiner Leistung bemessen?

Für wen ist die Vorstellung von nur zwei Geschlechtern, die sich gegenseitig begehren ein Gewinn?

Bin ich das Problem oder die Gesellschaft?

Lasst uns gemeinsam an einer zugänglicheren Welt für ALLE arbeiten und aus den Welten der verschiedenen Bewegungen lernen. Lasst uns uns gegenseitig zuhören, zusehen und uns emphatisch, solidarisch zuwenden in unseren Kämpfen auch für ein inklusiveres Heidelberg. Wir haben unglaublich viel Wissen erworben als Minderheiten in dieser Gesellschaft. Wir verstehen so vieles aus unserer Perspektive und wir wissen oft was es bräuchte. Wir haben Erfahrungen gesammelt in Wahlfamilien, in Assistenzbeziehungen, in Therapie, Krankenhäusern und auf Ämtern, im Überleben und Wiederaufstehen in einer noch nicht inklusiven Gesellschaft. Wir brauchen Räume in dieser Stadt, die sicher und zugänglich sind. In diesem Sinne hoffe ich auf gemeinsame Begegnungen in einem barrierefreien, queeren Zentrum in Heidelberg.

Ich möchte mit einem Zitat von der queeren, behinderten Künstler:in Johanna Hedva enden: “You don’t need to be fixed, my queens—it’s the world that needs the fixing. I offer this as a call to arms and a testimony of recognition.” Ihr müsst nicht in Ordnung gebracht werden, meine Queens- es ist die Welt, die in Ordnung gebracht werden muss. Dies ist ein Aufruf zum Kampf und ein Zeugnis der Anerkennung.

Zurück nach oben

Redebeitrag von der FAU zur Ausbeutung in Behindertenwerkstätten

Hallo alle,

Ich bin hier für die FAU Heidelberg. Die FAU ist eine unabhängige Gewerkschaft, in der alle lohnabhängige Menschen beitreten und mitmachen können, egal, wie ihre Arbeitsverhältnisse sind. Wir sind  ohne Chefs organisiert und alle Menschen arbeiten hauptsächlich an den Dingen auf die sie Lust haben und helfen sich gegenseitig durch schwierige Situationen. Entscheidungen treffen wir zusammen, und nur wenn alle zustimmen.

In einer Gewerkschaft geht es darum für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, und Unterstützung und Rückhalt bei Arbeitskonflikten zu bekommen.

Heute geht es um den Arbeitsplatz an dem in Deutschland die meisten behinderten Menschen arbeiten. Nämlich einer WFmB einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung.

Diese gehören auch oft mit Wohn- Pflege- und Freizeiteinrichtungen zusammen, in großen Komplexen, komplett von der restlichen Gesellschaft getrennt.  Hier wird Arbeit, die sich in ihrer Qualität nicht allzu sehr von der Arbeit nicht-behinderter Menschen unterscheidet, zynisch als „freiwilliges Beschäftigungs-Angebot“ beschrieben. Dort werden Arbeiten gemacht, wie Kugelschreiber zusammengeschraubt, Pizzen belegt, oder sonstige Herstellungs- und Verpackungsprozesse, welche dazu noch meist sehr monoton sind. Die Menschen dort arbeiten bis zu 8 Stunden am Tag, ohne angemessene Bezahlung, und mit 2 Euro die Stunde weit unter Mindestlohn, ohne die Perspektive jemals eine andere Arbeit machen zu dürfen, weil sie eben lieber als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden. Ihnen wird sogar das Recht gesetzlich aberkannt, sich gewerkschaftlich zu organisieren, weil sie kein reguläres Arbeitsverhältnis haben.

Dies ist je nach Einzelfall manchmal schlimmer manchmal weniger schlimm, aber vor allem ist es weder selbstbestimmt noch inklusiv.

Gleichzeitig kämpfen wir für einen Neuen Arbeitsbegriff und eine Realität ohne Lohnabhängigkeit und Leistungszwang, wo Behinderte Menschen nicht mehr nützlich für den Arbeitsmarkt werden sollen, in dem sie in solchen Werkstätten ausgebeutet werden. Eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse aller gleichwertig sind und Arbeit tatsächlich bedeutet etwas herzustellen weil es benötigt wird, oder einfach aus Freude anstatt für Produktivität und Profit.

Zurück nach oben

Redebeitrag von der Roten Hilfe zu ableistischer  Polizeigewalt

Liebe Genoss_innen, liebe Freund_innen,

ich freue mich, dass wir als Rote Hilfe Heidelberg/Mannheim heute hier sprechen dürfen. Wir als Solidaritätsorganisation unterstützen linke Aktivist_innen, die wegen ihres politischen Engagements von staatlicher Repression betroffen sind. Und immer wieder erreichen uns dabei auch Berichte von ableistischem Polizeiverhalten bis hin zu brutaler Gewaltanwendung.

Dazu ein Beispiel. Einen Höhepunkt der Menschenverachtung durch die Einsatzkräfte musste Corax, ein behinderter Klimaaktivist, am 19. September letzten Jahres bei der Blockade des Kohlekraftwerks Jänschwalde in Brandenburg erleben. Corax ist rund um die Uhr auf einen Elektro-Rollstuhl, ein Beatmungsgerät und eine geschulte Assistenzkraft angewiesen. Auf seinen Wunsch hin wurde sein Rollstuhl bei der Aktion mit einem Fahrradschloss am Zuggleis befestigt, um die Blockade zu verstärken. Das sollte auch verhindern, dass potenziell unbedarfte Polizist_innen sich selbst am Räumen ausprobieren und durch unüberlegte Hauruck-Aktionen Coraxʼ Gesundheit gefährden, statt auf die Räumprofis der Technischen Einheit zu warten. Genau das passierte aber, und als die Cops später Corax im Rollstuhl über das holprige Gleisbett fortschleppten, wurde er extrem durchgeschüttelt. Dass ihm das starke Schmerzen bereitete, ignorierten die Einsatzkräfte.

Auf dem Revier wurde Corax von seinen Assistenzen getrennt, obwohl nur diese sich mit seinem Beatmungsgerät auskennen. Stundenlang wurde der Klimaaktivist in Gewahrsam gehalten und dort mit ableistischen Kommentaren verhöhnt. Unter anderem befragten ihn die Beamt_innen, weshalb er zum Toilettengang eine Assistenz brauche, wie er überhaupt pinkle und ob er das nicht im Vernehmungsraum machen könne.

Diese Menschenverachtung wurde nur noch übertroffen durch die bewusste Gefährdung seines Lebens: Obwohl der Akkustand seines E-Rollstuhls und seines Beamtmungsgeräts immer mehr sank und keine kompetente Assistenz mehr vor Ort war, ließ die Polizei Corax nicht frei. Stattdessen wurde er auf Anraten des Amtsarzts in nicht geeigneten Transportfahrzeugen kurzzeitig ins Krankenhaus und ohne medizinische Begleitung zurück zur Wache gebracht und erst nach vielen Stunden freigelassen.

Dieses ableistische und menschenverachtende Verhalten ist leider keine Ausnahme. Immer wieder erfahren behinderte Aktivist_innen brutale Polizeigewalt, beispielsweise bei Räumungen von Blockaden. Hier wenden die Beamt_innen teils bewusst und systematisch, teils fahrlässig brutale Gewalt gegen behinderte Teilnehmer_innen an und fügen ihnen massive Schmerzen zu. Das Gleiche gilt, wenn die Einsatzkräfte linke Demonstrationen angreifen. Zum Beispiel setzte die Polizei bei den Klimaprotesten von Ende Gelände letzten Sommer in Hamburg Pfefferspray ein, was vor allem für Aktivist_innen, die auf künstliche Beatmung angewiesen sind, lebensbedrohlich ist. Außerdem kam es dort zu massiven Schlagstockeinsätzen, denen Demonstrant_innen im Rollstuhl noch weit weniger ausweichen können als andere Teilnehmer_innen. Das Gleiche gilt für den Einsatz von Wasserwerfern. In all diesen Fällen ist es an uns als linke Bewegung und solidarische Mitdemonstrant_innen, diese Situationen schon im Vorfeld mitzudenken, inklusive Aktionsmodelle zu entwickeln, eine barrierearme Teilnahme zu ermöglichen und bei Angriffen durch die Polizei unsere behinderten Genoss_innen und Mitstreiter_innen nicht alleinzulassen.

Die ableistische staatliche Repression setzt sich auch auch in anderen Formen fort: Regelmäßig berichten Aktivist_innen von Ableismus beispielsweise bei Gerichtsverhandlungen. Das beginnt bei der fehlenden Barrierefreiheit der Gerichtsgebäude und reicht bis hin zu diskriminierender Berichterstattung in der Presse. Über ihre jüngsten Erfahrungen bei einem Prozess vor dem Amtsgericht Ahaus am 17. April berichtete die Kletteraktivistin und Journalistin Cécile Lecomte, die wegen ihres Rheumas im Rollstuhl sitzt. Für die Verhandlung war ein nicht barrierefreier Saal festgelegt worden. Als sie später wegen zunehmender Erschöpfung Verhandlungspausen beantragte, um sich kurz hinzulegen, reagierte das Gericht unwirsch. Unsäglich waren die ableistischen Kommentare dazu in der Lokalpresse, die ihr durch die chronische Erkrankung bedingtes Pausenbedürfnis offen in Frage stellten.

Abschließend möchte ich noch einen anderen Punkt ansprechen, der nicht politische Aktivist_innen betrifft, sondern polizeiliche Alltagsgewalt. In den letzten Jahren kommt es immer häufiger zu tödlich endenden Polizeieinsätzen, und sie richteten sich nicht nur gegen migrantisch gelesene Menschen – die rassistische Polizeigewalt ist ein anderes Thema. Viele, die in den letzten Jahren von der Polizei getötet wurden, waren Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen oder in psychischen Ausnahmesituationen. Oft sind sie übrigens zusätzlich auch von Rassismus betroffen. Manche Fälle ereignen sich in Einrichtungen wie die Erschießung des 16-jährigen Mouhamed Dramé im August 2022 in Dortmund oder eines Schwarzen Mannes, der am 14. September 2022 durch die Berliner Polizei in einem betreuten Wohnheim so brutal misshandelt wurde, dass er drei Wochen später an den Folgen starb.

Andere Fälle ereignen sich auf der Straße wie beispielsweise im Mai 2022 in Mannheim: Erst am Dienstag jährte sich der mörderische Einsatz gegen A. P., nachdem ein Arzt des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit polizeiliche Unterstützung für den Umgang mit dem Mann erbeten hatte. Am Mannheimer Marktplatz wurde A. P. in aller Öffentlichkeit von Beamt_innen misshandelt und getötet, und bis heute gibt es weder Aufklärung noch Konsequenzen.

Das ist nur ein Fall von vielen, in denen Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen von der Polizei nicht nur keine Hilfe und Unterstützung bekommen, sondern brutale Gewalt erfahren, oft mit tödlichem Ausgang.

Wir fordern ein Ende der ableistischen Polizeigewalt – sei es gegen linke Aktivist_innen, sei es im Alltag!

Zurück nach oben

Redebeitrag von Luisa l’Audace zu den ableistischen Morden in Potsdam

Triggerwarnung: Mord, Gewalt, Ableismus 

Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort “Potsdam” hört? Bis zum 28. April 2021 war es einfach nur der Name einer Stadt. Doch seit diesem Tag ist es auch ein Synonym für eine schreckliche Tat, die uns nur einmal mehr schmerzlich vor Augen geführt hat, dass Ableismus tötet. 

Am Abend des 28. Aprils 2021 attackierte die Pflegerin Ines R. fünf behinderte Bewohner_innen des Potsdamer Oberlinhauses mit einem Messer und ermordete vier von ihnen. Auch zuvor habe sie schon versucht, Bewohner_innen bewusst zu ersticken oder zu vergiften. Ines R. hatte bereits über zehn Jahre zuvor Gewaltfantasien an behinderten Menschen geäußert. Sie habe die schreckliche Vorstellung, ihre Patient_innen zu massakrieren, sagte sie einer Psychoanalytikerin. 

Ines R. hat auch einen behinderten Sohn. Auch ihn zu ermorden, habe sie sich vorgestellt. Wie konnten diese so expliziten Gewaltfantasien nicht ernst genommen werden? Wie konnte sie über zehn Jahre später immer noch durch eine Einrichtung spazieren und genau jene Fantasien in die Tat umsetzen?

Doch auch nach dieser Tat bleibt ihr gesamtgesellschaftliche Aufschrei aus. Im Gegenteil: plötzlich sprach man von “Erlösung” und Pflegenotstand. Und wir fragen uns auch noch zwei Jahre später: “Was muss denn noch passieren? Wie offensichtlich muss die Gewalt an uns noch werden, damit wir endlich unsere Schlüsse daraus ziehen und dieses System ändern?” Ein System, in dem behinderte Menschen jeden Tag Gewalt erfahren und sich nicht sicher fühlen können. Ich möchte, dass jede einzelne Person weiß, was wir meinen, wenn wir von “Potsdam” sprechen. Ableismus tötet und das wird er weiterhin tun, solange wir ihn nicht als Ursache dieser Gewalttaten verstehen, benennen und aktiv bekämpfen.

In Gedenken an:

Lucille H.

Andreas K.

Martina W.

Christian S.

Zurück nach oben

Redebeitrag von Akut + C/ IL zu einer feministischen Perspektive der Behinderung

Liebe Menschen,

wir sind von Akut+C, der Interventionistichen Linken und sind heute hier, um die ableistischen Barrieren in unserer Gesellschaft mit euch gemeinsam aufzubrechen. Als Feminist_innen möchten wir über die Mehrfachdiskriminierung von behinderten und neurodiversen Menschen sprechen. Wir müssen aber auch darüber sprechen, sich im Feminismus gezielter mit Ableismus zu beschäftigen. Sonst gibt es keine Gerechtigkeit für alle.

Obwohl es alle Lebensbereiche, den eigenen Körper, die eigene Psyche betrifft und unser Verhalten bestimmt, reden wir zu wenig darüber. Das dahinter liegende Wertesystem wie ein Mensch auszusehen hat ist so tief in uns verankert, das wir die sexistischen und ableistischen Zustände als Normalität betrachten. 

Wir müssen aber verstehen, wie kapitalistische Vorstellungen unsere Gesellschaften bestimmen. Denn sowohl Alter, körperliche Verfassung, Gesundheit und Geschlecht werden immer bedeutsamer und entscheiden über die Verteilung von Ressourcen. Daher wollen wir die Reproduktion dieser Wertvorstellungen und Barrieren infrage stellen. 

Wenn wir über Menschen mit „besonderen Bedürfnissen“ müsste eigentlich nach kurzer Zeit klar werden das wir über die Grundbedürfnisse jedes Menschen sprechen!! Etwa den Zugang zu einem Gebäude, zu Arbeit, Bildung, Privatsphäre, Hygiene, Versorgung, Sex. Aber selbst darüber Entscheidungen zu treffen oder unabhängig zu sein wird systematisch Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Nicht-binäre, transidente, agender Personen mit und ohne Behinderung enorm erschwert.

Wir möchten einige Beispiele nennen.

Als behinderte und neurodiverse Person wird man schon im Alltag, in der Schule, in den Behörden oder im Berufsleben nicht ernst genommen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. 

Dabei spielt auch das zugeschriebene Geschlecht eine Rolle. 

Bei FLINTA_ liegt die soziale Hauptverantwortung. Sie sind es die sich in erster Linie um die emotionale und körperliche Gesundheit anderer kümmern sollen. Wenn sie dann neben dieser ganzen Arbeit noch einem bezahlten Beruf nachgehen, werden sie auch noch schlechter bezahlt. Viele FLINTA_ mit Behinderungen erleben oft auch eine Entsexualisierung. Das heißt sie werden nicht als Mensch mit Geschlecht wahrgenommen. Ihnen wird ihre Sexualität und Autonomie selbst über ihr Geschlecht zu entscheiden, genommen. Besonders heftig ist, das Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in Einrichtungen leben, häufiger sterilisiert sind, auch wenn sie wenig oder keine sexuellen Kontakte haben. Ob die Frauen immer wissen, dass sie infolge der Verhütungspraxis keine Kinder bekommen können, ist unklar. Vielen von ihnen ist jedoch sehr deutlich, dass ihre Eltern nicht wollen, dass sie Kinder bekommen. Nahezu die Hälfte aller sterilisierten Frauen in Einrichtungen gaben in einer Studienauswertung an, dass der Arzt/die Ärztin oder die Betreuungsperson gesagt habe, sie sollten sich sterilisieren lassen. Eine „informierte und freiwillige Zustimmung“ darf infolge dieser Ausführungen in vielen Fällen bezweifelt werden.

FLInTA erleben oft Gewalt, die sich in unterschiedlichen Formen äußert. Dazu gehören Beschimpfungen sowie körperliche und sexualisierte Gewalt. Viele Menschen mit Behinderung erfahren in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt. Auch Diskriminierung und Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe gehören zum Alltag vieler Menschen mit Behinderungen. Die Strukturen in den Einrichtungen und in unserer Gesellschaft fördern und begünstigen  diese Gewalt.

Auch aus der Medizin hat man gelernt, dass es abweichende Körper, ungesunde Körper, zu heilen gilt. Ein Beispiel ist die Pränataldiagnostik, also die vorgeburtlichen Untersuchungen des Embryos bzw. Fötus. Die vorgeburtlichen Untersuchungen zielen nicht darauf ab, Erkrankungen zu erkennen und behandeln zu können. Sondern es geht vor allem darum Behinderungen beim Fötus zu entdecken bzw. auszuschließen. Hier beginnen die Probleme: Denn die Entscheidungen rund um Pränataldiagnostik werden extrem individualisiert. Als einzige Alternative zum Austragen der Schwangerschaft ist in dem Fall ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Behinderung. Werdende Eltern sollen „frei“ und „selbstbestimmt“ entscheiden, können es aber eigentlich nur falsch machen: Entscheiden sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch wegen einer vorgeburtlich  diagnostizierten Behinderung, gelten sie als behindertenfeindlich. Entscheiden sie sich gegen die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik oder wissentlich für die Geburt eines Kindes mit Behinderung, müssen sie sich dauernd rechtfertigen und werden von der Gesellschaft allein gelassen. 

In der Gesellschaft und besonders im Gesundheitssystem herrscht nach wie vor ein fehlerhaftes Bild von Behinderung vor. Behinderung wird mit Krankheit gleichgesetzt und viele verknüpfen ein Leben mit Behinderung mit Leid und Unglück. Wer nichts leistet hat nicht das Recht zu leben – das ist ein kapitalistischer Leitspruch und wir wollen uns dem nicht beugen!

Wir müssen dann auch gegen den Ableismus in Räumen die sich eigentlich für Diversität einsetzen kämpfen! 

Denn in feministischen Diskursen stecken oftmals noch behindertenfeindliche Strukturen. Nur in einer intersektional-feministische Gesellschaft, können schwangere Personen auch freie selbstbestimmte Entscheidungen GEGEN die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik und FÜR die Geburt eines Kindes mit Behinderung treffen. 

Die Vorstellung das Menschen mit Behinderung leiden wird durch mangelnde oder schlechte Repräsentation behinderter Menschen in den Medien aufrechterhalten. Statt den Fehler im Umfeld zu suchen, wird dieser der behinderten Person zugeschrieben. Was diesen Geschichten fehlt, ist die Systemkritik. Wir wollen und müssen eine Bewegung schaffen, die sich dagegen auflehnt. Das heißt Begriffe wie Ableismus zu kennen. So wird es uns leichter fallen, das System dahinter zu verstehen und sichtbar zu machen.

Wir fordern unter anderem:

– Reproduktive Selbstbestimmung und Antiableismus zusammendenken.                  

– Unsere Privilegien checken und unsere eigene Behindertenfeindlichkeit reflektieren.                  

– Eintreten für eine antiableistische Gesellschaft, in der Sorgeverhältnisse nichthierarchisch und gerecht verteilt sind. 

– Ein queeres barrierefreies Zentrum in Heidelberg!

Zurück nach oben

Redebeitrag zur sozialen Realität einer Behinderten

Ich bin noch nie aktivistisch aufgetreten, weil ich in einer Welt aufgewachsen bin, die mir immer wieder das Gefühl gab, dankbar sein zu müssen und still zu sein. Doch vor allem bin ich nicht aktiv für meine Rechte eingetreten aus Angst. Aus Angst davor nicht gehört zu werden, nicht ernst genommen zu werden und dadurch nicht-behinderten Menschen “auf die Füße zu treten” und zu riskieren, dass jene auf die ich zählen muss, mich nicht mehr unterstützen.  

Als die Corona-Krise begann hatte ich die Hoffnung, dass nicht-behinderte Menschen endlich verstehen würden, wie es ist nicht an der Gesellschaft teilhaben zu können, da nun alle gewisse Regeln einhalten mussten und nicht mehr nach Lust und Laune das Haus verlassen konnten, feiern gehen konnten oder stellenweise auch nicht normal ihrer Arbeit nachgehen konnten. Aber ich musste leider feststellen, dass es nicht so war. Als ich mit meinen Kommilitonen über die veränderte Vorlesungssituation sprach fragten sie mich “Wie kommst du damit klar, nur zuhause zu sitzen?” und ich antwortete, ohne groß darüber nachzudenken, dass sich für mich nicht sonderlich viel in meinem Alltag verändert hat, außer dass ich nicht mehr zur Uni gehen kann. Ich wurde fragend angestarrt und es trat augenblicklich eine unangenehme Stille ein. Ich glaube, da begriffen meine Kommilitonen, dass nur weil wir in unserem Studium der Sozialpädagogik lernten, was Inklusion und Gleichberechtigung für behinderte Menschen bedeutet, diese Konzepte noch lange nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind. Das war der erste Funke, der in mir entfacht wurde und der Wunsch etwas zu ändern das erste Mal größer wurde als meine Angst. 

Seit diesem Tag, spreche ich aus was mich stört und wo ich Barrieren sehe, ob diese nun in den Köpfen der Menschen gefestigt sind oder es um reelle Barrieren im Alltag geht. Mir ist natürlich bewusst, dass ich dadurch unangenehme Gefühle in den Menschen wecke, die nicht meiner Lebensrealität angehören und die Reaktionen darauf sind absehbar: Rechtfertigung für ihr ableistisches[1] Handeln und der Drang zu blockieren. Das Gespräch wird dann relativ schnell in eine andere Richtung gelenkt oder es tritt eine unangenehme Pause ein, weil nicht-behinderte Menschen, keine Ahnung haben, wie sie darauf reagieren sollen. Und doch hoffe ich jedes Mal, dass ich wenigstens in ein oder zwei Personen den Anstoß angeregt habe umzudenken.

Das wünsche ich mir für meine Zukunft und für die Zukunft aller betroffenen. Das wir nicht mehr kämpfen müssen für die Dinge, die uns zustehen, dass wir nicht mehr auf unsere Behinderung reduziert werden und danach beurteilt werden, wie leistungsfähig wir sein könnten, dass die Menschen endlich begreifen, dass Behinderung vielseitig ist und nicht immer “Leid” für Betroffene bedeutet. Dass unser Wert anerkannt wird.

Zurück nach oben


Fußnoten:

[1] Ableismus beschreibt die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem Menschen an bestimmten Fähigkeiten – laufen, sehen, sozial interagieren – gemessen und auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden. Ableismus betont die Ungleichbehandlung, Grenzüberschreitungen und stereotypen Zuweisungen die Menschen wegen ihrer Behinderung erfahren.  Es gibt eine normative Vorstellung davon, was Menschen leisten oder können müssen. Wer von dieser Norm abweicht, wird als behindert gekennzeichnet und als minderwertig wahrgenommen. Quelle

This entry was posted in Deutsche Texte, Redebeitrag, Veranstaltung. Bookmark the permalink.