Interview zu unserem Fundraiser in der Rote-Hilfe-Zeitung 2/2021

Die Publikation findet ihr im Heft 2/2021 der RHZ, Seite 45-47

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Solidarität mit den angeklagten Aktivist*innen in Griechenland!

Rote Hilfe OG Heidelberg/Mannheim

Zu Beginn des Jahres 2021 rückte mit der Solidaritätsbewegung für den politischen Gefangenen Dimítris Koufontínas, der wegen seiner Mitgliedschaft in der Stadtguerilla-Organisation 17. November (17N) zu elfmal lebenslanger Haft plus weiteren 25 Jahren verurteilt wurde, die Situation in Griechenland international stärker in den Fokus. Die extreme staatliche Repression gegen soziale Kämpfe und Demonstrationen, zuletzt gegen die Unterstützer*innen von Koufontínas, ziehen zahllose Prozesse nach sich. Eine Reihe von Großverfahren gegen insgesamt 70 Aktivist*innen aus Athen, das Ende Mai beginnt und enorme Summen für Anwält*innen- und Gerichtskosten sowie die zu erwartenden Geldstrafen verschlingt, war für die Rote Hilfe OG Heidelberg/Mannheim der Anlass, in Zusammenarbeit mit der Soligruppe fytíli (dt. Docht, Lunte) einen Spendenaufruf zu starten.

Zu den Hintergründen führte die Ortsgruppe ein Interview mit den Mitgliedern von fytíli.

OG HD/MA: Anfang 2021 gingen Zehntausende Aktivist*innen in Griechenland in Solidarität mit dem politischen Gefangenen Dimítris Koufontínas auf die Straße, und auch in anderen Ländern gab es Proteste und Soliaktionen. Was war der Anlass?

Fytíli: Dimítris Koufontínas war 65 Tage lang, vom 8. Januar bis zum 14. März 2021, im Hungerstreik, weil er widerrechtlich und geheim zu einem anderen Gefängnis transportiert wurde, anstatt zu dem, das von einem rachsüchtigen, auf ihn persönlich zugeschnittenen, von der Regierung der „Neuen Demokratie“ verabschiedeten Gesetz vorgeschrieben war. Nicht nur hielt die Regierung ihr eigenes Gesetz nicht ein, sondern ignorierte auch seine Forderungen nach Gerechtigkeit und schloss ihn von allen gesetzlichen Mitteln aus. Dagegen haben viele Aktivist*innen in Griechenland und in Europa wochenlang gekämpft und Solidarität mit dem politischen Gefangenen gezeigt.

OG HD/MA: Gerade in Griechenland hielten die heftigen Proteste wochenlang an. Welche Protestformen gab es?

Fytíli: Um die Proteste zu koordinieren, haben sich viele Kollektive und Individuen zur „Versammlung für die Solidarität mit dem hungerstreikenden Dimítris Koufontínas“ zusammengeschlossen. Es wurden sieben griechenlandweite und zwei internationale Aktionstage aufgerufen mit mehreren lokalen Protestmärschen und Kundgebungen dazwischen und neben zahlreichen offenen Diskussionen in besetzten sozialen Zentren und Interventionen bei staatlichen Einrichtungen mit Flugblättern, Parolen und „Wandmalerei“. Vereinzelt haben Gruppen auch Polizeiwagen angezündet oder gesprengt.

Was man aber nicht vergessen darf, ist, dass die Solidaritätsaktionen für Koufontínas nur ein Teil eines viel größeren aktuellen sozialen Kampfes waren und meistens mit anderen Aktionen kombiniert wurden. Ein Kampf gegen die wuchernde Korruption der Regierung mit unzähligen Skandalen, wie einem regierungsnahen Pädophiliekreis und der allgegenwärtigen Vetternwirtschaft, gegen die absolute Kontrolle über und Beeinflussung von Informationsmedien, den brutalen Sexismus und Vergewaltigungen im Bereich der Künste, die stetig härtere Überwachung und willkürliche Rasterfahndung, die tollwütige Polizeigewalt, die Einführung einer Universitätspolizei, die Beschneidung oder Abschaffung von Arbeits- und Bildungsrechten, die katastrophale Pandemieverwaltung und letzten Endes gegen die gezielte ideologische Vernichtung der sozialen Bewegung und die Unterdrückung jeder Opposition.

OG HD/MA: Wie reagierte der Staat auf die Demonstrationen?

Fytíli: Der Staat reagierte immer direkt mit brutaler Härte auf der Straße und mit breiten Verleumdungskampagnen in den regierungstreuen Medien. Viele Versammlungen wurden aufgelöst, bevor sie richtig anfangen konnten.

Insbesondere in Athen kamen jedes Mal 4000 Polizist*innen zum „Einsatz“. Dabei wurden Demonstrant*innen verprügelt, mit Chemikalien und Wasser beworfen, durch die Nachbarschaften, Läden und Privathäuser gejagt und in Massen verhaftet. In der zentralen Polizeidirektion Athens wurden viele gefoltert und bekamen Anklagen durch gefälschte Beweise, „anonyme Zeugen“ oder erzwungenen Aussagen. Währenddessen wird eine alternative Realität in den Medien präsentiert: Alle Unterstützer*innen werden mit schmutzigen chaotischen „Terroristen“ gleichgestellt, die nicht aus selbstorganisierter Eigeninitiative aktiv, sondern von der sonst nutzlosen parlamentarischen Opposition organisiert würden. Ereignisse und Fakten werden nach dem Willen der Regierungsangehörigen vertuscht und Skandale werden verschwiegen.

OG HD/MA: Im Mai startet der Prozess gegen eine Gruppe von griechischen Aktivist*innen, die sich in Athen an einer der Protestaktionen beteiligt haben sollen. Was für eine Aktion war das, und was wird ihnen konkret vorgeworfen?

Fytíli: Die 70 Solidaritätsaktivist*innen werden Ende Mai in vier Großprozessen wegen Behinderung von Behörden- und Amtshandlungen, Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen und Verstoß gegen die Corona-Maßnahmen angeklagt. Sie haben am 18. Februar eine friedliche Intervention im Gesundheitsministerium veranstaltet, die auch über das Videoportal Twitch gestreamt wurde und niemanden behinderte, da das Ministerium an dem Tag nur mit Terminen arbeitete. Im Vergleich zu anderen Aktionen, die nur fünf bis zehn Minuten dafür brauchen, Flugblätter zu verbreiten und kurz Sprüche zu rufen, haben sich die Genoss*innen für eine Stunde im Gebäude verteilt und aufgehalten, wo sie gegen die Behandlung von Dimítris Koufontínas und gleichzeitig gegen die katastrophale Pandemieverwaltung protestierten, bevor sie dann von einer großen Anzahl an Polizist*innen aufgesammelt und zur zentralen Polizeidirektion Athens transportiert wurden, wo sie ohne die geringste Einhaltung der Hygienevorschriften zusammengedrängt eingesperrt wurden.

Wohlgemerkt wäre der einzige Anklagepunkt, der noch vor Gericht stehen kann, der Verstoß gegen die COVID-Maßnahmen. Trotzdem ist die damit verbundene Bußgeldstrafe, bei mittlerweile Tausenden von verhafteten Aktivist*innen, in Kombination mit den beschleunigten Gerichtsverfahren einfach ein Wirtschaftskrieg gegen die Bewegung, die so schon aus den schwächsten sozialen Schichten besteht und diese immensen Summen nicht so schnell oder gar nicht begleichen kann.

OG HD/MA: Welche Formen von Solidaritätsarbeit gibt es für angeklagte Aktivist*innen in Griechenland, und wie können wir sie von hier aus unterstützen?

Fytíli: Es ist ganz anders als in Deutschland. Obwohl die Finanzierungsaktionen immer koordiniert und intensiv durchgeführt werden, sind das meistens Initiativen einzelner Gruppen je nach aktuellem Bedarf. Vor der Coronakrise hat die Kunst eine große Rolle beim Spendensammeln gespielt, mit Solidaritätskonzerten, Festivals oder auch einfach Parties in besetzten Häusern. Das alles ist nicht mehr möglich, und viele wenden sich derzeit an crowd-funding-Plattformen wie Firefund. Daneben gibt es hauptsächlich in Athen eine Rechtshilfegruppe, eine Initiative von Anwält*innen und die Solidaritätskasse für politische Gefangene, die alle große Unterstützungsarbeit für diese Fälle leisten, aber wirklich nicht allem hinterherkommen können.

Generell könnten die Genoss*innen in Deutschland konzeptuell und materiell helfen. Das Konzept der Roten Hilfe könnte, als eine dezentral tätige Solidaritätsstruktur für alle von Repression betroffenen linken und anarchistischen Bewegungen, eine Inspiration werden, insbesondere für Leute, die schon Antirepressionsarbeit leisten, damit sie sich griechenlandweit zusammenschließen und ihre Mittel kombinieren. Abgesehen davon sind die materielle Solidarität durch das Sammeln von Spenden und die Öffentlichkeitsarbeit extrem wertvoll und kann für die griechischen Genoss*innen die Belastung etwas geringer machen. Aber das macht ja die Rote Hilfe schon in einem viel größeren Umfang, als von uns erhofft, wofür wir auch extrem dankbar sind.

OG HD/MA: Vielen Dank für das Interview!

Es wird weiterhin dringend Unterstützung für die Finanzierung der Massenprozesse benötigt. Spenden an:

Rote Hilfe e.V. Ortsgruppe Heidelberg

IBAN: DE32 4306 0967 6003 2928 00

Kreditinstitut: GLS-Bank

Verwendungszweck: Griechenland

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